„Zu viel ist zu viel.“ So und so ähnlich haben hunderte, nein, tausende Katholiken in Deutschland auf die unsäglichen Enthüllungen und Geschehnisse der letzten Wochen, Monate und Jahre reagiert. Diese Menschen sehen im Austritt aus der katholischen Kirche die einzige Möglichkeit, ein Zeichen zu setzen gegen menschenrechtsverletzende, verantwortungslose und diskriminierende Verhaltensweisen. Sie gehen in Wut, sie gehen in Trauer, sie gehen in Resignation, viele gehen dennoch an Gott glaubend.
Warum eigentlich bleiben wir? Aus Nostalgie? Weil wir hier in der Innenstadtpfarrei St. Vitus anders sind? Aus Trotz? Weil wir etwas verändern wollen? Weil wir an das Evangelium glauben?
Diese Fragen hat sich auch Dr. Christiane Florin, Politikwissenschaftlerin und Journalistin, gestellt. Ihr Buch „Trotzdem! Wie ich versuche, katholisch zu bleiben“ gibt Zeugnis von ihren großen Zweifeln. Kenntnisreich und schlagfertig nimmt sie sich der Themen an, die auch uns quälen: Allem voran der sexuelle Missbrauch, der Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren, die gesamte Sexualmoral der katholischen Kirche, der Ausschluss von Frauen aus Weiheämtern, die monarchische Struktur, die Streitkultur. Sie seziert nicht nur die nach unserem westlichen Verständnis nicht mehr nachvollziehbaren Verhaltensweisen, Haltungen und Weisungen, sondern sie richtet ihre spitze Feder auch gegen sich selbst. „Warum, zum Teufel, gebe ich, warum geben wir Schafe diesem Laden immer wieder eine Chance?“ fragt sie sich. Und gleich darauf nimmt sie diese krittelnde Frage aufs Korn, wenn sie sich und andere in dieser Kritik beisammenstehen sieht: „Auch Kirchenkritik kann kuschelig-wärmend sein. (…) Geduld reimt sich auf Schuld. Wir Geduldigen sind Komplizen.“
Wer Christiane Florin in die Ecke der Frustrierten stellen will, wird sich die Finger verbrennen. Sie ist für die Gleichstellung der Frau in der katholischen Kirche, ohne selbst Priesterin werden zu wollen. Sie will keine Glorifizierung der Frau als Mutter, obschon sie selbst Mutter ist. Sie ist für eine Gleichbehandlung homosexueller Paare, ohne selbst homosexuell zu sein. Sie will bedingungslose Aufklärung und ein Schuldbekenntnis in der Causa Sexueller Missbrauch, ohne selbst Opfer gewesen zu sein. Frau Florin vertritt die Haltung, dass Recht, Menschenrechte und Gerechtigkeit nicht lediglich eine lokale Gültigkeit haben (Stichwort Weltkirche) und schon gar nicht mit einem dubiosem „gottgewollt“ missachtet oder mit dem katholischen Schimpfwort „Zeitgeist“ entwertet werden dürfen.
Sie will nicht mehr geduldig sein. „Wir Trotzdem-Katholischen gehen nicht hin in Frieden, wir bleiben im Streit“, schreibt sie. Sie will sich nicht begnügen mit besänftigenden Gesprächsangeboten, sie will keine Kirche, die als Grund für den synodalen Weg den „Wunsch nach Rückgewinn an Glaubwürdigkeit“ nennt, sie will keine fragwürdigen theologischen Begründungen für Unrecht hören. Sie ist nicht gewillt, Ansprüche herunterzuschrauben und Kompromisse einzugehen, um nur ja niemanden zu überfordern. Sie erwartet Übernahme persönlicher Verantwortung und echten Streit auf Augenhöhe.
Warum sie trotzdem bleibt, können wir in ihrem Buch nachlesen und sie persönlich fragen. Das Buch „Trotzdem! Wie ich versuche, katholisch zu bleiben“ ist just zu Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 erschienen. Seitdem ist eine Menge geschehen: Die Aachener und Kölner Missbrauchsgutachten wurden präsentiert, das Responsum ad Dubium der Römischen Glaubenskongregation zur Segnung homosexueller Paare kam, Kardinal Reinhard Marx bot seinen Rücktritt an. Ich bin gespannt, was sie uns zu sagen hat!
Charlotte Lorenz